Die vorläufige Stadt
Texte von MICHAELA HEISSENBERGER
Fotografien von OLIVER KERN
Die vorläufige Stadt ist Berlin. Die vorläufige Stadt liegt in und
über und zwischen Berlin, sie besetzt die Lücken, die die Geschichte
dort hinterlassen hat: Zwischenräume, wo heute nicht mehr ist, was gestern
war, und morgen wieder anderes sein wird. Irgendwann werden all diese Leerräume
aufgefüllt und endgültigen Nutzungen zugeführt sein. Noch bieten
sie Spielraum, Bewegungsraum, Freiraum; sie verschaffen der Stadt Luft zum Atmen
und grandiose Aussichten.
Die vorläufige Stadt gibt es seit dem Mauerfall im November 1989. Über
die Zeit ihrer höchsten Blüte gehen die Meinungen auseinander; sicher
ist nur, daß es sie nicht mehr lange geben wird. Die Tatsache selbst,
daß sie heute - wenn auch unter verschiedensten Definitionen - allgemein
faßbar ist, spricht dafür, daß sich ein Ende abzeichnet.
Die vorläufige Stadt ist leicht zu finden: sie konzentriert sich entlang
der Bruchlinien des Kalten Kriegs und wuchert überall dort, wo die von
den Bomben gerissenen Löcher, die Mauerstreifen und Wirtschaftsruinen nicht
im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie bemächtigt sich des Niemandslands,
der Brachen, Baulücken, Provisorien und Behelfslösungen und erfüllt
noch die Baustellen des Endgültigen mit provisorischem Leben.
Vor allem aber ist die vorläufige Stadt ein gedanklicher Raum. Wer in Ostberlin
jung war in dem einen verrückten Jahr, als die alte Ordnung nicht mehr
galt, aber noch keine neue da war, um sie zu ersetzen, erzählt mit einer
Mischung aus Schauer und Verklärung von dieser Abwesenheit, die Raum schaffte
für Experimente. Heute, mehr als zehn Jahre später, kann die Leere
hier noch geatmet werden. Diese Luft ist es, die die Menschen nach Berlin lockt:
die, die die Leere lieben, und die, die die Leere suchen, um sie zu füllen.
Kontakt: info@die-vorlaeufige-stadt.de